Original unter http://www.rrz.uni-hamburg.de/IWK/appell.pdf Prof. Dr. Michael Funke, Universität Hamburg Prof. Dr. Bernd Lucke, Universität Hamburg Prof. Dr. Thomas Straubhaar*, Universität Hamburg und Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut HWWI 1. Hamburger AppellDie wirtschaftspolitische Debatte in Deutschland wird verstärkt von Vorstellungen geprägt, die einen erschreckenden Mangel an ökonomischem Sachverstand erkennen lassen. Dies ist um so besorgniserregender, als Deutschland sich in einer tiefen, strukturellen Krise befindet, die drastische und schmerzhafte Reformen verlangt. Gerade in Vorwahlkampfzeiten scheint die Bereitschaft gering, diese Tatsache den Bürgern mit der gebotenen Deutlichkeit vor Augen zu führen. Statt dessen erliegen maßgebliche Politiker der Versuchung, wissenschaftlich nicht fundierte Konzepte zu propagieren, die das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden sollen: Durch geeignete Maßnahmen, so wird suggeriert, könne eine Erhöhung der Binnennachfrage erreicht werden, die eine Überwindung der strukturellen Wachstumsschwäche nach sich ziehen würde. Diese Vorstellung ist falsch und gefährlich. Als Hochschullehrer für Volkswirtschaftslehre warnen wir eindringlich davor, Illusionen zu erzeugen und damit die Akzeptanz notwendiger Reformen zu untergraben. Wir appellieren an das Verantwortungsbewusstsein der gewählten Volksvertreter, der Versuchung einfacher Lösungen zu widerstehen und statt dessen ungeschönte Antworten auf die drängenden ökonomischen Fragestellungen zu geben. Insbesondere sollten dabei die folgenden Punkte beachtet werden: 1. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist eine bedeutende und komplex strukturierte ökonomische Größe, die sich einer nachhaltigen Steuerung weitestgehend entzieht. Schon die starken internationalen Verflechtungen der Bundesrepublik Deutschland führen dazu, dass die Nachfrage der Deutschen keineswegs überwiegend Nachfrage nach deutschen Produkten sein muss – eine Vielzahl von Produkten ist ausländischer Herkunft oder enthält bedeutende ausländische Vorleistungsanteile. Dazu kommt, dass alle erwirtschafteten Einkommen, Lohneinkommen genauso wie Gewinneinkommen, Nachfragewirkungen entfalten; selbst Ersparnisse finanzieren stets die Nachfrage eines Kreditnehmers. Ein Eingriff zugunsten einer bestimmten Form von Nachfrage hat daher in erster Linie Umschichtungen zwischen Konsum, Investitionen und Staatsnachfrage zur Folge. Dies stört die Struktur der Gesamtnachfrage, führt aber kaum zu ihrer Erhöhung. 2. Gleichwohl ist die Nachfrage nach deutschen Waren und Dienstleistungen wichtig. Sie wird geprägt durch deren Qualität, Innovativität und nicht zuletzt durch deren Preis. Diese Bestimmungsgründe der Nachfrage entziehen sich jedoch dem unmittelbaren Einfluss staatlicher Wirtschaftspolitik. Sie sind vielmehr geprägt durch die Qualifikation der Arbeitnehmer, durch die Modernität der Maschinen, durch Forschung und Entwicklung und die Kosten der Produktion. 3. Deshalb sind die Arbeitskosten ein Schlüssel zur Überwindung der deutschen Wachstumsschwäche. Wer behauptet, Deutschland könne und müsse ein Hochlohnland bleiben, handelt unredlich oder ignorant. Millionen von überwiegend gering qualifizierten Arbeitslosen finden seit Jahrzehnten zu den herrschenden Löhnen keine Beschäftigung – mit ungebrochen steigender Tendenz. Diese anhaltend hohe Arbeitslosigkeit verursacht gravierende soziale und wirtschaftliche Lasten, die die krisenhafte Entwicklung noch verstärken. Überdies wird die erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung in Osteuropa und Asien zukünftig vermehrt auch mittlere bis hohe Qualifikationsprofile des deutschen Arbeitsmarktes erfassen und zumindest zu äußerster Lohnzurückhaltung nötigen. Gleichwohl ist festzuhalten, dass das Versagen der Tarifparteien in den letzten Jahrzehnten vor allem zu Lasten der Geringqualifizierten ging. Die unangenehme Wahrheit besteht deshalb darin, dass eine Verbesserung der Arbeitsmarktlage nur durch niedrigere Entlohnung der ohnehin schon Geringverdienenden, also durch eine verstärkte Lohnspreizung, möglich sein wird. Eine Abfederung dieser Entwicklung ist durch verlängerte Arbeitszeiten, verminderten Urlaubsanspruch oder höhere Leistungsbereitschaft möglich. 4. Eine Kompensation der Geringverdienenden durch den Sozialstaat ist in gewissem Umfang möglich. Aber dafür muss die Sozialpolitik von Lohnersatzleistungen zu Lohnzuschüssen wechseln. Das deutsche System der Lohnersatzleistungen von der Sozialhilfe über das Arbeitslosengeld bis zur subventionierten Frührente erzeugt Lohnansprüche, die der Markt nicht mehr befriedigen kann. Gegen die Kräfte der Globalisierung kann der Sozialstaat nur verteidigt werden, wenn er nicht mehr als Konkurrent der privaten Wirtschaft auf dem Arbeitsmarkt, sondern als Partner agiert. Das System der aktivierenden Sozialhilfe zeigt einen praktikablen Weg. 5. Zu den Bedingungen wirtschaftlichen Erfolgs gehören Investitionen in Maschinen, Fahrzeuge, Gebäude und andere wirtschaftliche Anlagegüter. Investitionstätigkeit ist mit erheblichen Risiken verbunden - Investitionen erfolgen daher nur, wenn den Verlustrisiken attraktive Gewinnmöglichkeiten gegenüberstehen. Hohe Arbeitskosten und hohe Steuerlasten mindern unternehmerische Gewinne und damit unmittelbar die Investitionsbereitschaft. Klassenkämpferische Rhetorik tut ein Übriges, um Investitionen zugunsten anderer Standorte zu verdrängen. Umgekehrt schaffen Investitionen nicht nur Arbeitsplätze in den investierenden Betrieben. Sie sichern auch Beschäftigung im investitionsgüterproduzierenden Gewerbe und mindern den Lohndruck auf dem Arbeitsmarkt. 6. Investitionen sind langfristige Entscheidungen, die nicht nur die heutigen, sondern auch zukünftige steuerliche Belastungen berücksichtigen müssen. Die unkontrolliert wachsende Staatsverschuldung der Bundesrepublik Deutschland wird zu Recht als zukünftig anstehende Steuerbelastung wahrgenommen. Dasselbe gilt für die unterfinanziert wachsenden Zahlungsverpflichtungen der sozialen Sicherungssysteme. Deshalb schadet den deutschen Interessen, wer auf nationaler oder europäischer Ebene Anreize zur Konsolidierung der Staatsfinanzen untergräbt. Jede Ausdehnung der Staatsverschuldung schwächt die Binnenkonjunktur, weil strukturelle Ungleichgewichte verschärft statt kuriert werden, so dass Bürger und Unternehmen mit gesteigerter Vorsicht wirtschaften müssen. Das kaufkrafttheoretische Argument, in einer wirtschaftlichen Stagnation dürfe man sich nicht “kaputtsparen”, ist bequem, aber falsch. 7. Deshalb muss eine verantwortungsbewusste Finanzpolitik streng stabilitätsorientiert sein. Die Konsolidierung der Staatsfinanzen erfordert weitreichende Einschnitte in allen Bereichen der öffentlichen Ausgaben. Davon können auch die sozialen Sicherungssysteme nicht ausgenommen bleiben. Wer Gegenteiliges behauptet, wird den wirtschaftlichen Herausforderungen Deutschlands nicht gerecht oder führt in populistischer Weise die Bürger in die Irre. Dasselbe gilt für Reformvorschläge für die Sozialversicherungssysteme, die beanspruchen, die Finanzierung der Leistungen zu sichern, indem die Anzahl der Beitragszahler in demselben Maße erhöht wird wie die Anzahl der Anspruchsberechtigten. 8. Bildung und Ausbildung der Deutschen sind wichtige Standortfaktoren, die zunehmend in die Kritik geraten. In der Tat sind ernstzunehmende Defizite unübersehbar und münden schnell in den Ruf nach verbesserter Mittelausstattung im Bildungswesen. Dabei wird oft übersehen, dass große Fortschritte allein durch vermehrten Ansporn zu Fleiß, Wissbegier und strenger Leistungsorientierung erzielt werden könnten. Darüber hinaus wäre eine Umorientierung der höheren Berufsausbildung weg von verwaltenden und hin zu technischen, ingenieur- oder naturwissenschaftlichen Ausbildungsgängen für die wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven Deutschlands sicherlich ratsam. 9. Ähnlich verhält es sich mit Forschung und Entwicklungstätigkeiten, in denen Deutschland seine einst führende Stellung in vielen Bereichen eingebüßt hat. Auch hier liegt weniger ein finanzielles als vielmehr ein strukturell-institutionelles Problem vor. So wird die Forschungstätigkeit in Deutschland in wesentlichen Zukunftstechnologien durch rigide staatliche Vorgaben behindert oder zur Verlagerung ins Ausland genötigt. Offenkundig ist es ein Irrglaube, durch staatliche Vorgaben bestimmte Forschungsfelder an der Entwicklung hindern zu können. Der einzige Effekt derartiger Regulierung besteht darin, dass andere Länder die primären Nutznießer neuer Technologien sind und diese erst verspätet und zu möglicherweise überhöhten Kosten in Deutschland genutzt werden können. 10. Die binnenwirtschaftlichen Probleme und Herausforderungen werden verschärft durch den ständig stärker werdenden Konkurrenzdruck im europäischen Binnenmarkt und die sich weiter entfaltende Globalisierung. Beide außenwirtschaftlichen Einflüsse stellen aber zugleich große Chancen für die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands dar, denn sie ermöglichen effizientere Produktionsbedingungen und eröffnen die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung. Jedoch muss Deutschland willens sein, die zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit nötigen Anpassungen in ähnlicher Form zu leisten, wie z. B. Großbritannien, Finnland und Irland dies erfolgreich getan haben. Eine Wirtschafts- und Sozialunion mit Frankreich wäre wohl eher die Ehe des Lahmen mit dem Gebrechlichen. Statt dessen brauchen wir Flexibilität, Innovationsbereitschaft, unternehmerische Initiative und Mut zur Veränderung. 11. Die öffentliche Diskussion zum Thema Globalisierung in Deutschland wird leider häufig in einseitiger Art und Weise geführt. Während im Rahmen des Strukturwandels notwendigerweise auftretende Arbeitsplatzverluste in den Medien sehr stark thematisiert werden, fehlen klare Aussagen zu den positiven Auswirkungen der Globalisierung. Die vertiefte internationale Arbeitsteilung ist - nur vergleichbar mit dem technischen Fortschritt – der zentrale Motor zur Steigerung unseres Lebensstandards. Neben einem höheren Konsumniveau durch billigere Produkte trägt auch eine deutlich größere Produktvielfalt maßgeblich zur Steigerung unseres Lebensstandards bei. Eine zentrale wirtschaftspolitische Aufgabe besteht darin, diese positiven Effekte der internationalen Arbeitsteilung zu vermitteln und durch einen schnelleren Strukturwandel dafür zu sorgen, dass Wachstum und Wohlfahrtsgewinne in möglichst großem Umfang realisiert werden können.
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Original unter http://www.rrz.uni-hamburg.de/IWK/appell.htm 2. Die UnterzeichnerProf. Dr. Frank Achtenhagen, Universität Göttingen |
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Dr. Harald Wozniewski 3. ÜbersetzungHaben sie es geschafft, diesen hochtrabend klingenden “Hamburger Appell” zu lesen oder gar zu verstehen? Nein? Machen Sie sich nichts draus! Ich werde Ihnen die wichtigsten Stellen in verständliches Deutsch übersetzen: 1. Binnenwirtschaft ist wichtig. Deren Verbesserung könne nicht vom Staat gesteuert werden. 2. Die Binnennachfrage, also die Nachfrage nach deutschen Waren und Dienstleistungen, hänge ab von der Qualität, “Innovativität” und dem Preis der Waren und Dienstleistungen. 3. Um den Preis von Waren und Dienstleistungen zu verringern, sei es erforderlich, die Löhne zu senken. Gering qualifizierte Arbeitslose müssten sich in Zukunft mit noch niedrigerer Entlohnung zufrieden geben. 4. Der Staat solle Arbeitslosengeld und Sozialhilfe abbauen, und dafür sorgen, dass die Arbeitslosen in (privaten) Unternehmen für weniger Geld arbeiten gehen, wobei dann der Staat noch einen Teil des Arbeitslohns zahlen soll. 5. Den Unternehmen sollen “Investitionen” in Maschinen und andere Anlagegüter durch bessere Gewinnchancen schmackhafter gemacht werden, insbesondere durch geringere Löhne und geringere Steuern. 6. Die zunehmende Staatsverschuldung hemme die Investitionsbereitschaft der Unternehmen, weshalb die Staatsschulden begrenzt und reduziert werden müssten. 7. Die Staatsschulden sollen begrenzt und reduziert werden durch den Abbau in den sozialen Sicherungssystemen. 8. Die Bildung und Ausbildung der deutschen Arbeitnehmer sei unbedingt zu verbessern, aber nicht durch mehr Geld für das Bildungswesen, sondern durch “Ansporn zu Fleiß, Wissbegier und strenger Leistungsorientierung”. 9. Forschung und Entwicklung müssten vom Staat in allen erdenklichen Richtungen erlaubt sein, um nicht ins Hintertreffen zu anderen Ländern zu geraten. 10. Die Globalisierung eröffne für die Unternehmer erfreulicherweise mehr Möglichkeiten des unternehmerischen Handelns und zwinge die Arbeitnehmerschaft zu mehr Flexibilität, Einsatz und Bescheidenheit in Fragen der Entlohnung. 11. Der Staat habe für all dies sowie für die Akzeptanz bei der Bevölkerung möglichst schnell zu sorgen. 4. Abschließende BemerkungenDie hohen Professoren, die den Hamburger Appell verfasst und die sich damit solidarisch erklärt haben, zeigen, dass sie nicht eine “Volkswirtschaft” heilen wollen, sondern nur die Situation der Unternehmer. Die volkswirtschaftlich völlig unsinnige Konfrontation von Arbeitnehmern und Unternehmern (ich verweise auf [Irrwege/Sozialpartner] “Die Gewerkschaften haben Recht - Und die Arbeitgeber haben auch Recht”) wird hier auf verklausulierte Weise auf die Spitze getrieben. Es mag sein, dass die Professoren das Wesen unserer Geldwirtschaft (ich verweise auf [Modelle/Der Nil] “Wenn das Geld fließt, wie der Nil in der Wüste”, [Fakten/Kaufkraft] “Geld, Kaufkraft und die Einkommensverteilung”, [Fakten/Einkommen] “Die Einkommensentwicklung steht Kopf”, [Modelle/Reich ./. Arm] “Einsamer Reichtum basiert auf der Verarmung der Bevölkerung”) begriffen haben. Sie ziehen daraus aber öffentlich keine Schlüsse und schützen damit die Reichen (die oberen Zehntausend) in Deutschland und in der Welt. Ein Gutes hat aber der Hamburger Appell: Er liefert uns kostenlos eine Liste der Professoren, die wir nicht mehr ernst nehmen können. Nachtrag Oktober 2006: Vergleichen Sie die Unterschriftenliste mit der Ich zitiere den berühmten, leider schon verstorbenen und von mir hoch verehrten Börsenspekulant André Kostolany: “Warum gibt es, besonders in der Bundesrepublik, so viele junge Leute, die Volkswirtschaft studieren? Ganz einfach: Sie brauchen auf ihrer Visitenkarte in fetten Buchstaben das Wort Diplom-Volkswirt. Große Unternehmen und Banken ziehen bei einer Anstellung seit einigen Jahren solche Kandidaten vor, bei denen sie den Beweis haben, daß sie keine Analphabeten sind. Und nun kommt's: Der ... |
Hierzu auch [Modelle/Geldfluss] “Die falsche Vorstellung der Volkswirte vom Geldfluss in unserer Volkswirtschaft” 2008
Leser seit 18.2.2007:
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Aktuelle Zahlen (Jan 2020): Geldmengen pro Haushalt / Vermögen & “Stundenlohn” Die 60 DM Kopfgeld 1948 Der Bruttostundenlohn aller Geldumlaufgeschwindigkeit: |
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Aktuelle Themen: Krisenpolitik - eine unendliche Geschichte |
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“Die richtigen Fragen”
Die Anstalt vom 05.04.2016 fast nur der Kritik am modernen Feudalismus gewidmet: